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Wo bitte geht's hier zur Augenhöhe?

Wann haben Sie zum letzten Mal darüber nachgedacht, was «auf Augenhöhe» bedeutet? Hier ein kleiner Versuch dazu. Einiges ist mir erst während des Schreibens aufgegangen. Lesen Sie selbst.

Foto: Tom Kelley Archive 1999

Übersicht


1. Auf der Suche nach der Augenhöhe

Man sieht spontan eine Wander- oder Touristengruppe vor sich: «Wo bitte geht’s hier zur Augenhöhe?» «Eh, Moment, warten Sie, ich zeig’s Ihnen … Ach, Augenhöhe? Nein, die gibt’s hier nicht! Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?» Humorvoll mit dem Ausdruck «Höhe» gespielt, lässt dieser Titel unser Leben als Wanderschaft verstehen. Vielleicht sind wir zeitlebens auf der Suche nach der Augenhöhe. Dabei sind es manchmal wir, manchmal andere, manchmal alle Seiten, die sich von einem erhöhten Ort herunter- oder aus einem Tal heraufbewegen müssen.


2. Auf Augenhöhe: Mit einem Sachverhalt? Mit den Mitmenschen?

Die Metapher wird hin und wieder verwendet, wenn es um ein bestimmtes Wissen geht. Wir sollen uns mit einem bestimmten Sachverhalt vertraut machen, um mit ihm «auf Augenhöhe» zu sein. Allerdings: Geht das auf? Bei einer Wanderung können wir z.B. auf die «Lueg» gelangen. Wir können uns dort mit anderen treffen und die gleiche Aussicht geniessen. Aber gilt das auch für geistige Landschaften? Für ein Wissen über einen bestimmten Sachverhalt ist das so kaum möglich. Um mit der oft komplexen Wirklichkeit auf Augenhöhe zu geraten, dazu sind wir in unserer Auffassungskraft zu eingeschränkt und zu unterschiedlich geprägt. «Auf Augenhöhe» passt aber, wenn dies eine bestimmte Qualität in unseren Begegnungen und Beziehungen bezeichnen soll. Sie meint dann die Gleichwertigkeit, die gegenseitige Wertschätzung und das einander Ernstnehmen. Grundlage dafür ist, dass wir einander die gleiche Würde zuerkennen wie uns selbst. Wäre diese vom Wissen abhängig, kämen wir nie zur Augenhöhe.


3. Auf Augenhöhe – schon rein äusserlich

Pfarrpersonen stehen in der Kirche auf der Kanzel oder auf der erhöhten Schwelle zum Chor. Lehrpersonen vor der Schulklasse. Rednerinnen und Redner aller Art am Rednerpult. Sie alle meist vor einer sitzenden Hörerschaft. Dies sind Situationen, in denen Unterschiede in der Augenhöhe äusserlich vorgegeben sind. Tendenziell wird damit auch ein gestuftes Beziehungsangebot unterbreitet. Wir nehmen dies in unsrer Kultur mehr oder weniger bereitwillig hin. Je nachdem, ob die so höher­ge­stell­te Person diesen «Höhenunterschied» vergessen lässt oder aber zelebriert. Aus meiner Beratungs­ausbil­dung wie auch aus der Zeit am Campus Muristalden hat sich mir eingeprägt, dass eine beratende Person wie auch eine Lehrperson gut daran tut, schon einen rein äusserlichen «Höhenunterschied» zu minimieren. Tritt sie z.B. nahe an ein Pult heran, sucht sie die Augenhöhe mit der Schülerin oder dem Schüler. Sie beugt sich dazu herunter oder geht in die Knie. Das bewährt sich genauso in der Begegnung mit älteren, häufig sitzenden Menschen. Ist es einmal nicht möglich, sich zu ihnen zu setzen bei einem Gespräch, kommt auch hier die In-die-Knie-Variante zum Zug. Zwar knacken die Knie dabei laut. Die Gesprächsatmosphäre aber wandelt sich in dieser Blickposition spürbar. Probieren Sie das einmal aus.


4. Auf Augenhöhe – eine innere Haltung und notwendige Übereinstimmungen

Klar, trotz äusserlich gleicher Augenhöhe kann ein Gespräch von oben herab geführt werden. Auf dem Bild mit den beiden Lausbuben ist z.B. die äusserlich gleiche Augenhöhe überdeutlich inszeniert. Aber die Gestik lässt auf eine ganz und gar entgegengesetzte innere Haltung und auf ein Gefälle schliessen. Auf der einen Seite: «Ich sag dir jetzt, wie’s ist!» Und auf der anderen: «Moment, darf ich auch noch was sagen?!» Dabei wird deutlich: «Auf Augenhöhe» ist zuerst eine Frage der inneren Haltung. Allerdings muss diese sich auch in Äusserem zeigen. Möchte man widersprüchliche Botschaften vermeiden, so müssen verschiedene Ebenen miteinander übereinstimmen. Die innere Haltung und die äussere Gestik und Gestaltung der Situation. Dazu kommt das, was wir sagen, und ob wir dementsprechend handeln. Bestehen da Widersprüche, so bewirken wir Verunsicherungen in unseren Beziehungen. Wird z.B. mit Worten betont, dass man einander «auf Augenhöhe» begegnet, aber mit Gestik oder Taten das Gegenteil getan, also das Gegenüber abgewertet und übergangen, dann geht als erstes das Vertrauen verloren. Schlimmer noch, man bringt so das Gegenüber in eine ausweglose Ohnmacht. Der Ausdruck «auf Augenhöhe» ist ja nun – missbräuchlich – mit dem Gegenteil besetzt. So wird die Situation verschleiert und kann kaum noch benannt werden. Erlebt man so etwas über längere Zeit, kann man den missbrauchten Ausdruck nicht mehr ernstnehmen.


5. Auf Augenhöhe – auch in Strukturen?

Im Alltag sind wir in der Regel wahre Künstlerinnen und Künstler, um immer wieder flexibel Augenhöhe herzustellen. Wie aber ist es mit der Augenhöhe in vorgegebenen Strukturen? Also in Beziehungen, in denen Rollen, Kompetenzen und Aufgaben dauerhaft aufgeteilt sind. Da wird nicht jeden Morgen neu gefragt: «Willst du heute das Geschäft führen? Oder soll ich noch einmal?» «Willst du kommenden Sonntag den Gottesdienst leiten und soll ich diesmal Sigrist sein?» So sinnvoll diese Unterschiede bei der Aufteilung der Arbeit sein mögen, für Beziehungen auf Augenhöhe sind sie eine besondere Herausforderung. Das gilt immer, wenn Rollen eine Vor- und Nachordnung beinhalten und dabei immer gleichbleiben. Da kann es für die Augenhöhe kritisch werden. Nicht umsonst gibt es die Redewendung, der/die solle «vom hohen Ross heruntersteigen». Sie gilt Menschen, wenn sie anderen die gleiche Augenhöhe verweigern. Im Leben können wir – bei allem sozialen Aufstieg – nicht mehr werden als Menschen. So ist jede Art Überhöhung letztlich ein künstliches Podest. Das muss dazu reizen, es als solches zu entlarven oder auch wegzustossen. «Jede Schlucht soll aufgefüllt werden und jeder Berg und jeder Hügel abgetragen.» Dieses Zitat Johannes’ des Täufers aus dem Propheten Jesaja (Lk 3,5; Jes 40,4) liesse sich in diesem Sinne verstehen. Und von dort aus ist es nicht weit zum Schlachtruf der französischen Revolution: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“.

Menschen in strukturell «erhöhten» oder zentralen Positionen sind hier besonders in Versuchung: Erliegen sie dem Rausch dieser künstlichen Erhabenheit? Schleicht sich Herrschaftliches in ihr Gebaren? Oder bleiben sie auf Augenhöhe zu ihren Mitmenschen? Diese Herausforderung ist nicht einfach zu meistern. Der überhöhte Wert ihrer Leitungsposition wird ihnen auch von aussen angetragen. Selbst noch durch Entmachtungsversuche. Und selbst wenn diese gelingen, drehen sie den Spiess meist nur um. Das führt dazu, dass einfach andere Menschen den «Thron» besteigen und der verführerischen Magie seiner Höhe erliegen. Durch diese Magie verschmilzt der Mensch mit seiner Leitungsposition. Aber nur wenn die Höhe in der strukturellen Position und der Wert des Menschenseins auseinandergehalten werden. Nur dann sind einerseits Leitung und anderseits Begegnung auf Augenhöhe möglich. Und auch die Leitungstätigkeit selbst ist heute im Umbruch begriffen. Im Zusammenspiel muss sie vor allem drei Dinge beachten: 1. Einbezug. 2. Einbezug. 3. Einbezug. Das ist wenigstens nicht schwer zu merken. Einbezug auf Augenhöhe ist auch in Strukturen möglich und sogar ein Gebot der Stunde.


6. Ein Anstoss zum Mit- und Weiterdenken

Wo bitte geht’s hier zur Augenhöhe? Jeder/jede prüfe sich vor allem selbst, ob er/sie sich nicht durch eine bestimmte Position über andere erhaben fühlt. Wir müssen einander aber auch darauf aufmerksam machen dürfen. Augenhöhe ist etwas Gegenseitiges. Sie lässt sich finden, wenn wir miteinander auf der Suche nach ihr bleiben. Wir brauchen sie, damit wir unsere Aufgaben erfüllen können. Vor allem aber damit unser Leben und Zusammenleben gedeiht. Um sie zu erreichen, müssen wir uns aber bewegen. Meist alle.


Soweit dieser Anstoss zum Mit- und Weiterdenken. Melden Sie sich doch, wenn es Sie an- oder aufgeregt hat. Es interessiert mich und würde mich freuen! Christian C. Adrian

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